Im IT-Kontext umfasst Barrierefreiheit dementsprechend die Entwicklung von Software also beispielsweise Websites oder digitale Plattformen, so dass diese von Menschen mit verschiedenen Formen von Behinderungen problemlos genutzt werden können.
Warum Barrierefreiheit auch bei der Umsetzung von Geschäftsanwendungen und somit auch von SAP-Applikationen berücksichtigt werden sollte, diskutiert p78 Geschäftsführer Michael Scheffler in dieser Folge mit Aline Schneefeld, Consultant HR Strategy & Transformation bei p78 und Ralph Tonn UX Specialist bei Movable.Design.
Ergänzende Informationen zu dieser Episode:
- DSAG Personaltage Vortrag zum Thema (V20 am 05.06.2024): "Innovation im Öffentlichen Dienst: Barrierefreie Apps im SAP HCM auf Basis von SAP Fiori", K. Marten (it.NRW), M. Rothe (p78), R. Tonn (Movable.Design)
- Details zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG)
- Lösungen für Vielfalt und Inklusion im SAP Store, SAP News Center
- SAP SuccessFactors: UX zur Förderung von Vielfalt und Inklusion, SAP News Center
- Accessibility in SAP Fiori, Fiori for Web Design Guidelines
Das Interview zum Nachlesen
Allgemeine Vorstellung und Bedeutung der Barrierefreiheit
Michael Scheffler:
Herzlich willkommen bei HR/IT Talk, Aline und Ralf. Auf die heutige Diskussion habe ich mich besonders gefreut, da wir ausnahmsweise zu dritt über das wichtige Thema Barrierefreiheit in Zusammenhang mit Geschäftsanwendungen sprechen werden. Aline, könntest du dich bitte mit ein paar einleitenden Worten unseren Zuhörern und Zuhörerinnen vorstellen? Was genau machst du?
Aline Schneefeld:
Mein Name ist Aline Schneefeld, und ich freue mich, heute bei diesem Thema dabei zu sein. Ich bin bei p78 seit fast zwei Jahren als Consultant im Bereich HR Strategy und Transformation in München tätig. In unserem Team habe ich zwei unterschiedliche Rollen: Einerseits begleite ich das Thema Change Management sowie verschiedene HR-Strategien und Transformationsthemen, andererseits berate ich im Bereich Candidate Experience und begleite Projekte zur Entwicklung von Karriereseiten.
Michael Scheffler:
Ralf, du warst bereits vor längerer Zeit im virtuellen Tonstudio zu Gast. Für alle, die die damalige Folge nicht gehört haben, könntest du dich bitte noch einmal kurz vorstellen und etwas über dein Unternehmen Moveable.Design erzählen?
Ralf Tonn:
Mein Name ist Ralf Tonn und ich war bereits im Rahmen des Formats User Experience zu Gast. Wir sind Moveable.Design, eine kleine Beratungsagentur für Management und IT-Beratung mit dem Schwerpunkt Human-Centered Design. Unser Fokus liegt auf dem Menschen. Das umfasst User Experience, Mensch-Computer-Schnittstellen und Barrierefreiheit. Unser Tätigkeitsfeld erstreckt sich von der Anforderungserhebung – also was der User braucht – bis hin zur Entwicklung von Lösungen im SAP UI5-Bereich. Unser Ziel ist es, diese Lösungen benutzerfreundlich, effizient und barrierefrei zu gestalten. p78 und ich haben in diesem Bereich bereits mehrfach zusammengearbeitet.
Michael Scheffler:
Danke für die Vorstellung. Aline, könntest du uns einen Überblick verschaffen, was genau unter Barrierefreiheit zu verstehen ist und warum sie nicht nur im Alltag, sondern auch bei Geschäftsanwendungen und in der Geschäftswelt notwendig ist?
Aline Schneefeld:
Barrierefreiheit bedeutet, dass Menschen mit Seh- oder Hörbehinderungen, motorischen Einschränkungen, kognitiven Beeinträchtigungen oder anderen speziellen Bedürfnissen die gleichen Informationen erhalten und die gleichen Funktionen nutzen können wie Menschen ohne Einschränkungen. Dies kann durch spezielle Technologien wie Screenreader für blinde Menschen, Untertitel für Gehörlose, spezielle Tastatur-Zugriffe für Menschen mit motorischen Beeinträchtigungen oder klare Designs für Menschen mit kognitiven Einschränkungen erreicht werden. Barrierefreiheit fördert die Chancengleichheit und ermöglicht die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für alle. Sie unterstützt die Inklusion von Menschen und beseitigt Hindernisse, die den Zugang zu und die Nutzung von Technologien erschweren könnten. In der heutigen digitalen Welt ist es besonders wichtig, diesen Aspekt zu beachten, vor allem bei der Gestaltung oder Entwicklung von Produkten. Barrierefreiheit trägt nicht nur dazu bei, dass alle Menschen am digitalen Leben teilnehmen können, sondern auch zur Verbesserung der Benutzerfreundlichkeit und der Gesamtqualität von Produkten oder Anwendungen. Diese Verbesserung entsteht dadurch, dass eine breitere Palette von Nutzern berücksichtigt wird.
Michael Scheffler:
Ich habe kürzlich eine Studie gelesen, die sogenannte Allensbach-Brillen-Studie. Darin steht, dass in Deutschland 41,1 Millionen Menschen eine Brille tragen, was bedeutet, dass 67 Prozent der Bevölkerung über eine Seeschwäche verfügen. Das ist ein sehr relevantes Thema, wenn man diesen Aspekt betrachtet.
Ralf Tonn:
Es geht nicht nur um extreme Fälle, sondern auch um leichte Seheinschränkungen oder temporäre Situationen. Ein Beispiel ist, wenn man beim Fußball den Ball an den Kopf bekommt und dadurch vorübergehend eine Einschränkung hat. Wir reden hier nicht nur über Extremfälle wie den vollständigen Verlust der Sehkraft, sondern auch über alles dazwischen, einschließlich temporärer Einschränkungen, die viele Menschen betreffen. Etwa 10 Prozent der Bevölkerung haben eine anerkannte Schwerbehinderung, und darüber hinaus gibt es etwa 30 Prozent, die leichte Einschränkungen haben, die aber dennoch eine Beeinträchtigung darstellen. Dies beginnt schon bei der Sprache: Ist die Sprache verständlich? Ist die Information für alle zugänglich? Das betrifft nicht nur eine spezielle Gruppe, sondern uns alle, mal mehr, mal weniger, mal temporär, mal dauerhaft. Auch die Grenze zwischen Benutzererlebnis und Barrierefreiheit ist fließend.
Herausforderungen bei der Umsetzung von Barrierefreiheit in Geschäftsanwendungen – Guidelines und Praxisbeispiele
Michael Scheffler:
Was bedeutet das nun für die Einführung und Implementierung von Geschäftsanwendungen? Welche Herausforderungen siehst du da?
Aline Schneefeld:
Bei der Entwicklung von barrierefreien Geschäftsanwendungen ist es sehr wichtig, sicherzustellen, dass alle Benutzer erreicht werden, unabhängig von ihren Fähigkeiten oder Einschränkungen. Dies lässt sich erreichen, indem ein Verständnis für die Bedürfnisse verschiedener Benutzergruppen entwickelt wird und durch die Einhaltung von Barrierefreiheitsstandards und Richtlinien wie den WCAG, den Web Content Accessibility Guidelines. Darüber hinaus müssen gesetzliche Anforderungen berücksichtigt werden, die je nach Region, Land oder Branche unterschiedlich sein können. Dies kann zu verschiedenen Herausforderungen bei der Entwicklung von Geschäftsanwendungen führen.
Michael Scheffler:
Ralf, was kannst du aus der Praxis unserer gemeinsamen Kundenprojekte berichten? Welche Erfahrungen hast du gemacht?
Ralf Tonn:
Besonders im öffentlichen Sektor ist das Thema Barrierefreiheit schon lange präsent und gewinnt auch im privatwirtschaftlichen Sektor zunehmend an Bedeutung. Zu Beginn gibt es oft Zurückhaltung, weil die Begriffe „Robustheit“ oder „Zugänglichkeit“ nicht klar sind. Wer von uns hat schon einen Screenreader? Es gibt oft Berührungsängste, die jedoch unnötig sind, da es einfache Regeln gibt. Die WCAG ist eine umfassende Liste von Normen, die für viele gesetzliche Anforderungen grundlegend sind. Wenn man sich daran orientiert, hat man schon viel erreicht. Es reicht, sich eine Stunde mit den WCAG-Regeln zu beschäftigen, um die Komplexität zu verstehen. Es gibt einfache Regeln wie: nicht eindimensional, sondern mehrdimensional oder auf mehrere Sinne zu gestalten. Beispielsweise ein Bild nicht nur visuell darstellen, sondern auch als Textalternative anbieten. Ein weiteres Beispiel ist die Visualisierung des Status per Ampel, nicht nur durch Farbe, sondern auch durch Formen. Darauf zielt die WCAG ab. Es geht darum, nicht nur eindimensional zu denken, sondern mehrdimensional, mehrere Sinne, mehr Geräte und Nutzergruppen zu berücksichtigen. Das beginnt bei der Gestaltung von Oberflächen oder Schnittstellen. Es gibt unterschiedliche Grade der Barrierefreiheit, von A bis AAA. Je mehr Kriterien erfüllt werden, desto komplexer wird es, aber nicht jede Anwendung muss alle Anforderungen erfüllen. So sind Alternativen zum Bewegbild, Transkripte oder Gebärdenalternativen nicht immer nötig. Es gibt jedoch grundlegende Dinge, die beachtet werden sollten.
Michael Scheffler:
Ralf hat uns einen guten Einstieg in das Thema WCAG gegeben. Kannst du uns noch etwas mehr darüber erzählen, Aline?
Aline Schneefeld:
Die WCAG sind, wie Ralf schon gesagt hatte, Richtlinien, die vom World Wide Web Consortium entwickelt wurden. Die Einhaltung dieser Richtlinien ist für viele Websites und Online-Plattformen rechtlich vorgeschrieben. Unternehmen können durch die Einhaltung dieser Richtlinien sicherstellen, dass ihre Inhalte für alle Nutzer zugänglich sind, unabhängig von deren individuellen Fähigkeiten oder Einschränkungen. Diese Richtlinien umfassen vier Prinzipien: Wahrnehmbarkeit, Verständlichkeit, Robustheit und Bedienbarkeit. Unter diesen Prinzipien befinden sich 13 Richtlinien, die wesentliche Ziele und Regelungen definieren. Diese Richtlinien sind von Priorität A bis AAA gestaffelt, was die unterschiedlichen Anforderungen bei der Erfüllung dieser Punkte widerspiegelt. Ein Beispiel ist die Verständlichkeit. Die Formulierung von Inhalten und Texten sollte leicht verständlich sein. Die Webseite sollte intuitiv gestaltet sein, damit die Nutzer die Struktur und Bedienung der Seite verstehen können.
Michael Scheffler:
Was hat das mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) zu tun? Den Begriff hört man öfter. Soweit ich weiß, wird es ab Mitte 2025 verpflichtend. Kannst du uns dazu mehr sagen?
Aline Schneefeld:
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) ist eine wichtige gesetzliche Maßnahme zur Förderung der Barrierefreiheit in Deutschland. Es ist ein bedeutender Schritt in Richtung Zukunft zur Förderung von Inklusion und Chancengleichheit in der Gesellschaft. Betroffen sind zum Beispiel Hardware wie Computer, Terminals, Telefone, E-Book-Reader, aber auch digitale Angebote für verschiedene Branchen und Dienstleistungen. Daher ist es für die Zukunft von großer Bedeutung.
Michael Scheffler:
Danke euch beiden. Das Thema Barrierefreiheit ist sehr komplex und bringt große Herausforderungen bei der Umsetzung von Geschäftsanwendungen mit sich. Lassen Sie uns im Kontext von SAP-Systemen und Anwendungen tiefer in die Materie einsteigen. SAP hat eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Verbesserung der Barrierefreiheit und zur Gewährleistung der Zugänglichkeit für alle Benutzer vorgesehen. Welche Möglichkeiten gibt es da, Ralf? Vielleicht kannst du uns am Beispiel unseres gemeinsamen Kundenprojekts Details erläutern.
Ralf Tonn:
Die SAP bietet mit dem Design-System SAP UI5 eine Lösung, die in vielen Beschäftigtenportalen oder SAP-Weboberflächenportalen zum Einsatz kommt. Im myNRW-Projekt des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen hatten wir einen extrem komplexen Fall, bei dem wir den Zeitnachweis neu entwickelt haben. Dieses Projekt werden wir auch bei den DSAG-Personaltagen diesen Sommer im Detail präsentieren. Die Herausforderung bestand in der Zeitwirtschaft mit allen Varianten und Details, die sehr technokratisch ist. Wir mussten diese Daten für die Barrierefreiheit optimieren. SAP bietet mit dem Design-System einen Baukasten, in dem viele Dinge bereits geregelt sind. Standard-Themes sorgen dafür, dass der notwendige Kontrast eingehalten wird. Das Design-System besteht aus UI-Komponenten wie Buttons, Eingabefeldern und Canvas, die Struktur und standardisierte Elemente bieten. Dies ist nicht nur im Rahmen der Barrierefreiheit wichtig, sondern auch für die Benutzerführung, da eine klare Struktur, wiederkehrende und gleichbleibende Elemente gewährleistet werden. Früher war in der Web-Entwicklung alles individuell, heute sorgt das Design-System für Konsistenz.
Beim Beispiel Zeitnachweis haben wir uns auf einfache Sprache, klare Struktur und Mehrdimensionalität konzentriert. Können unterschiedliche Ausgabegeräte mit verschiedenen Zoom-Stufen auf eine Oberfläche zugreifen? Wir haben den Sprachgebrauch vom Technokratischen hin zur normalen Sprache der Mitarbeitenden geändert. Wo es komplizierter wurde, haben wir nicht nur Standarderklärungen und Warnungen ausgegeben, sondern auch Erläuterungen im Kontext des jeweiligen Anwendungsfalls bereitgestellt. Diese Punkte sind klassische Designtätigkeiten, die für alle von Vorteil sind. Technisch gesehen geht es darum, sauberes Coding zu nutzen, Fokus-Reihenfolgen einzuhalten und alternative Eingabemöglichkeiten zu berücksichtigen. Das haben wir am Zeitnachweis für Nordrhein-Westfalen umgesetzt und damit einen Präzedenzfall geschaffen. Es wurde kontinuierlich an der Barrierefreiheit gearbeitet, und dies war eine der ersten wirklich barrierefreien Applikationen im Portal. Ein Leuchtturmprojekt.
Empfehlungen und Tipps für die Praxis
Michael Scheffler:
Vielen Dank für die Insights. Zum Abschluss würde ich gerne ein paar Empfehlungen von euch erfragen. Aline, könntest du beginnen?
Aline Schneefeld:
Ein wichtiger Punkt ist das Testing von Applikationen. Dies kann bei großen IT- oder SAP-Einführungsprojekten einen erheblichen Aufwand darstellen. Die Entwickler müssen sicherstellen, dass alle Aspekte der Anwendung die Standards für Barrierefreiheit erfüllen, was zusätzliche Zeit und Ressourcen erfordert. Außerdem sollten regelmäßige Überprüfungen und Aktualisierungen der Anwendungen stattfinden, um sicherzustellen, dass sie den sich ändernden Bedürfnissen und Standards entsprechen und alle rechtlichen Vorschriften erfüllen.
Michael Scheffler:
Ralf, wie sieht es bei dir aus?
Ralf Tonn:
Testing ist ein großes Thema. Wenn man es weiterdenkt, ist es ein iterativer Prozess. Ein System muss getestet werden, und die Nutzer müssen in diese Tests integriert werden. Barrierefreiheit muss ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess sein. In der Regel kann man auch mit Gremien arbeiten, die kontinuierlich das Testing der Applikationen und die Einhaltung der Qualitätsstandards überwachen. Das Testing von Barrierefreiheitskriterien ist ein wichtiger Bestandteil davon und verpflichtet die Entwicklungsorganisation, dies einzuhalten. Entwickler sollten die vorhandenen Tools nutzen, auf sauberes Coding achten und Werkzeuge wie Browser-Plugins verwenden, die Barrierefreiheitsprobleme identifizieren können. Damit ist man gut aufgestellt. Die einfache Verringerung von Hürden bedeutet jedoch nicht automatisch eine gute Servicequalität für Menschen mit Einschränkungen. Integriert Menschen mit Einschränkungen als Tester in eure Prozesse, denn es geht nicht nur darum, Barrieren abzubauen, sondern auch eine hohe Servicequalität zu gewährleisten. Alle profitieren von den Erkenntnissen, die aus solchen Integrationstests gewonnen werden, um ein wirklich gutes Service- oder Benutzererlebnis zu bieten.
Michael Scheffler:
Vielen Dank für die spannende Diskussion und euren wertvollen Input. Ralf, wir sehen uns spätestens bei den Personaltagen an unserem Messestand und zu deinem Vortrag. Ich wünsche euch noch einen schönen Tag.
Aline Schneefeld & Ralf Tonn:
Vielen Dank, bis bald.